Um 1430 schuf der größte niederländische Buchkünstler dieses außerordentlich handliche Stundenbuch. Die detailreichen Abbildungen der Alltagswelt des 15. Jahrhunderts finden in Form und Inhalt nicht ihresgleichen.
Das Ungewönlichste Gebetbuch Des Mittlelalters
Ein prachtvolles Stundenbuch
Um 1430 entstand für die Herzogin von Geldern in Utrecht, vielleicht aber auch in Nimwegen, ein prachtvolles Stundenbuch, das in Umfang und Qualität auch in der Spätzeit der Buchmalerei seinesgleichen sucht. Für die Enkelin des Burgunderherzogs Johann Ohnefurcht, Katharina von Kleve, schuf der nach ihr benannte Meister eine Bilderhandschrift mit 157 Miniaturen auf 714 Seiten in einem außerordentlich handlichen Format.
Der Meister der Katharina von Kleve
Die Qualität und ikonographische Vielfalt ist so groß, dass wir annehmen können, dass der Meister der Katharina von Kleve die Kunst der Brüder van Eyck und die französische Buchmalerei seiner Zeit sehr gut gekannt haben muss. Zugleich aber entwickelte er einen eigenen unverwechselbaren Stil, der die nachfolgenden Buchmaler nicht nur in den Niederlanden nachhaltig beeinflusste. Weder Willem Vrelant noch der Meister der Maria von Burgund sind ohne diesen größten unter den niederländischen Buchkünstlern denkbar.
Ein Buch wie eine Bildergalerie
Mit seinen 157 halb- und ganzseitigen, prächtig gerahmten Miniaturen ist das Stundenbuch der Katharina von Kleve die größte geschlossene Bildergalerie niederländischer Kunst des 15. Jahrhunderts. Viele dieser Bilder sind nicht nur außergewöhnlich in Form und Inhalt sondern einmalig im wahrsten Sinne des Wortes, nirgendwo sonst finden wir Parallelen oder Entsprechungen in der spätmittelalterlichen Kunst. Manche der beeindruckenden Darstellungen, wie Fegefeuer oder Hölle, nehmen so manches aus dem Werk des Hieronymus Bosch vorweg. Selbst Anklänge an die niederländische Genremalerei der nachfolgenden Jahrhunderte sind schon in diesem Stundenbuch zu entdecken.
Bilder des Alltags im 15. Jahrhundert
Die detailreichen, liebevoll ausgeführten kleinen Gemälde führen uns in die Alltagswelt der Zeit um 1430. In heute noch leuchtenden Farben erfahren wir die reale Welt und das familiäre Umfeld der Menschen dieser Zeit. Das zu schildernde biblische Geschehen und Szenen aus dem Leben der Heiligen bieten dem Maler den Anlass dazu.
Doch sind es nicht nur die Bilder selbst, mit denen der Meister der Katharina von Kleve sein Ziel der Darstellung einer höfischen, bürgerlichen und bäuerlichen Realität erreichen will. Besondere Bedeutung verleiht er auch dem Raum um die Miniaturen. In den Rändern der einzelnen Seiten tauchen Münzen, Muscheln und Krabben, streitende Hähne, Fische, Schmetterlinge, Blumen und Insekten aller Art auf. Vogelkäfige und Reusen bilden zusätzlich anspruchsvolle Rahmen, in denen wir aber auch Bilder zur Jagd und Fischerei, eine melkende Bäuerin oder eine ganze Backstube finden. Die Aufzählung ließe sich unendlich lange fortsetzen. Es muss für die junge Herzogin eine wahre Freude gewesen sein, während der Andacht immer wieder neue Entdeckungen zu machen. Tatsächlich wirken die Randleisten wie ein weiteres Buch im Buch, das diesem Stundenbuch eine besondere Fröhlichkeit verleiht, nicht nur auf jener Seite auf der der heilige Bartholomäus in frisches Backwerk und knusprige Brezeln gerahmt ist.
Ein Hochzeitsgeschenk besonderer Art?
Wir wissen nicht, wer der Auftraggeber für dieses prachtvolle Stundenbuch war, die Vermutung aber liegt nahe, dass es für Katharina von Kleve zu ihrer Hochzeit mit Arnold von Egmont, Herzog von Geldern, geschrieben, gemalt und illuminiert worden ist.
Katharina entstammte einer Familie, die mit den großen Fürstenhäusern Europas in einem genannt wurde. Ihre Mutter war Maria von Burgund, die Tochter von Johann Ohnefurcht und Frau Arnolds von Kleve. Katharina war eine äußerst selbstbewusste Frau, die – unterstützt von Philipp dem Guten – für lange Zeit die Macht in Geldern an sich nahm, um die Misswirtschaft ihres Mannes zu beenden.
Die Faksimile-Edition führt zusammen, was zusammen gehört
Über die Geschichte des Stundenbuches selbst wissen wir nur wenig. Erst nach 1850 wird die Bilderhandschrift erstmals in der Neuzeit erwähnt, zu einem Zeitpunkt, da sie wohl gerade in zwei gleich starke Bände aufgeteilt worden war, um dem Antiquar ein Vielfaches von dem einzubringen, was durch einen einzigen Band zu erlösen gewesen wäre. Das Stundenbuch wurde so raffiniert geteilt, dass für einen Laien der Eindruck entstehen konnte, es handle sich in Wirklichkeit um zwei der schönsten Stundenbücher aus dem »Goldenen Zeitalter der niederländischen Buchmalerei.«
Der New Yorker Pierpont Morgan Library ist es gelungen, 1963 und 1970 beide Teile zu erwerben. Nach dem Abschluss der Arbeiten zur Faksimilierung dieses ungewöhnlichen Buches durch den Faksimile Verlag wird das Stundenbuch der Katharina von Kleve wieder in der Blattfolge gebunden werden, wie sie Katharina von Kleve, bei der Andacht vor bald 600 Jahren, vor Augen hatte. Die Faksimile-Edition nimmt dies bereits vorweg und präsentiert eines der berühmtesten Bücher des Spätmittelalters wieder in der Form, in der es geschaffen worden war.
Der wissenschaftliche Kommentar
Zur wissenschaftlichen Kommentierung der heute »bekanntesten und zugleich einer der bedeutendsten mittelalterlichen Handschriften« (William M. Voelkle), wurde ein ganzes Wissenschaftler-Team aus den USA, Deutschland und den Niederlanden gewonnen, das alle Aspekte dieses unvergleichlichen Meisterwerks auch für ein Laienpublikum aufbereitet.