Der Baumeister des Mailänder Doms schuf Ende des 14. Jahrhunderts das Vorlagenbuch, bedeutendstes Beispiel spätgotischer italienischer Kunst. 77 realistische Zeichnungen exotischer Tiere aber auch Menschen in typischen Haltungen, sowie 24 Buchstaben höchster Güte dienten vielen Künstlern als Vorlage.
Ein Universalkünstler wie Leonardo da Vinci
Das Musterbuch des Giovannino de Grassi ist die bekannteste und wertvollste Handschrift der Bibliothek »Angelo Mai« in Bergamo und wird allgemein als das bedeutendste Beispiel spätgotischer italienischer Kunst angesehen. Der im ausgehenden 14. Jahrhundert am Hofe der Visconti entstandene Codex, ein sogenanntes Musterbuch, beinhaltet insgesamt 77 Zeichnungen und 24 Buchstaben des Alphabets höchster Güte.
Der Meister, der diese Handschrift so perfekt ausgemalt hat, ist Giovannino de Grassi. Er war ein echter Universalkünstler: neben seiner Tätigkeit als Zeichner und Bildhauer war er auch Dombaumeister des prachtvollen Mailänder Domes.
Auf der Höhe seines Schaffens pflegte Giovannino de Grassi regen Kontakt mit den berühmtesten Architekten der mitteleuropäischen gotischen Kathedralen, wie Heinrich Parler und Ulrich von Einsingen. Das stärkte die Position des lombardischen Meisters und veranlasste ihn wahrscheinlich auch dazu, Zeichnungen anzufertigen, mit denen er seine künstlerischen Lösungen dokumentierte.
Musterbücher – Wegweiser mittelalterlicher Kunstentwicklung
Musterbücher dieser Art waren ein unentbehrliches Hilfsmittel in jeder Künstlerwerkstatt. Darin waren kunstvolle Schmuckelemente ebenso verzeichnet wie kalligraphisch perfekt ausgeführte Initialen oder auch Tiere. Kaum ein Künstler hatte nämlich jemals die Gelegenheit, für das Mittelalter so phantastische Wesen wie Leoparden, Gazellen oder gar Löwen in natura zu sehen. Um diese Tiere jedoch so realistisch wie möglich abbilden zu können, war es notwendig, dem Künstler eine Vorlage zur Verfügung zu stellen, die einheitlich genug war, um von jedem Betrachter eindeutig identifiziert zu werden.
Daher gestaltete man Musterbücher meist vorbildlich: die in ihnen abgebildeten Menschen und Tiere wurden in ihren typischen Haltungen und bei artspezifischen Tätigkeiten gezeigt.
Mustergültige Vorlagen für Generationen von Künstlern
Verschiedenste Wesen sind auf den Seiten der Handschrift abgebildet. Da liegen Schafe und Löwen einträchtig nebeneinander, Strauße, Stachelschweine oder Affen bevölkern das Manuskript. Besonders interessant sind jedoch die von Grassi perfekt ausgeführten Menschengruppen. Man sieht Frauen beim Leierspiel oder bei gemeinsamen Lesestunden; sogar ein Segelschiff ist zu erkennen.
Jede einzelne Seite des Musterbuchs ist ein vollendetes Kunstwerk für sich; künstlerisch so perfekt ausgeführt, dass es von vielen Künstlern nach Grassi gerne als Vorlage verwendet wurde.
Das weltberühmte Figurenalphabet
Auf fünf außergewöhnlichen Blättern des Musterbuches findet sich das berühmte Alphabet des Giovannino de Grassi. Die gotischen Buchstaben, perfekt ausgeführt vom Meister selbst, sind aus Menschen und Tieren gleichermaßen geformt. Musizierende Wesen und Engel tauchen ebenso auf wie äußerst realistisch dargestellte Löwen oder Stiere.
Begehrte Sammlerobjekte
Die überragende künstlerische Bedeutung sowie der Einfluss der Musterbücher auf die Stilentwicklung in der Kunst haben deshalb in der Folge meist dazu geführt, dass Musterbücher schon früh zu begehrten Sammlerobjekten wurden. Zweifellos das bekannteste und bedeutendste unter den Skizzenbüchern ist unser Musterbuch des Giovannino de Grassi – vor allem auch durch die Einzigartigkeit seiner Bilder, die jedes für sich ein in sich geschlossenes Kunstwerk darstellen.
Ein italienischer »Allroundkünstler« und sein Musterbuch
Mehrere Komponenten machen das Musterbuch des Giovannino de Grassi zu einem Meilenstein der Kunstgeschichte. Als Höhepunkt seines Gesamtwerkes neben dem Mailänder Dom besticht es durch seine europäische Ausrichtung und die offensichtlichen stilistischen Bezüge zu den anderen Zentren höfischer Kunst.
Die Tätigkeit Grassis als leitender Ingenieur des Mailänder Doms, als Zeichner, Planer und Bildhauer im letzten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts zeichnet ihn als vielseitigen und gewandten Künstler aus. Er war offen für die Einflüsse der zeitgenössischen europäischen Stilrichtungen und gleichzeitig ein wirkungsvoller Erneuerer und Vorläufer der italienischen Kunst unmittelbar vor dem Umbruch zur Renaissance.
Die Faksimile-Edition
Das Musterbuch des Giovannino de Grassi wurde vom Faksimile Verlag in bewährter Qualität faksimiliert.
Alle 62 Seiten des im ausgehenden 14. Jahrhundert am Hofe der Visconti entstandenen Codex werden im Originalformat von 26,0 x 18,6 cm bis 22,7 x 17,0 cm faksimiliert. Alle 77 Zeichnungen und die 24 Buchstaben des Alphabets werden originalgetreu wiedergegeben.
Alle Blätter sind dem Original entsprechend einzeln randbeschnitten; die Lagen wurden wie im Mittelalter von Hand und ohne Verwendung von Leim geheftet. Der Einband ist eine getreue Nachbildung des Originaleinbandes aus steifem Karton. Eine Umschlagtasche aus feinstem rotbraunem Velours dient als Schutz des Musterbuchs. Die Gesamtedition, bestehend aus Faksimileband mit Umschlagtasche und Kommentarband, wird in einer repräsentativen Buchkassette geliefert.
Die Auflage erschien als Koedition in einer Weltauflage von 999 Exemplaren. Die für den deutschsprachigen Raum reservierte Edition des Faksimile Verlags, exklusiv mit deutschsprachigem Kommentarband, ist auf 333 Exemplare limitiert.
Der Kommentarband
Im wissenschaftlichen Kommentarband wird jede der Miniaturen und auch das prachtvolle gotische Alphabet genauestens analysiert. Das Schaffen Giovanninos wird ebenso beleuchtet wie dessen bedeutende Ausstrahlung auf die Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag beschäftigt sich auch mit der erst kürzlich erfolgten Restaurierung der Handschrift. Die Beiträge stammen von Orazio Bravi, Direktor der Bibliothek »Angelo Mai«, Bergamo, von Maria Grazia Recanati von der Accademia Carrara, sowie von Maria Grazia Vaccari und Letizia Montalbano.