Um 1492 bei dem Miniaturenmaler Jean Poyet in Auftrag gegeben, sollte das kleine Gebetbuch dem Sohn der französischen Königin Charles-Orland als geistiger Begleiter und Erziehungsstütze dienen. Die lichtdurchfluteten, zarten Miniaturen kündigen den Beginn der Renaissance in Frankreich an.
Der Bilderschatz Einer Königin
Ein sehr persönliches Gebetbuch
Das liebevoll gestaltete Gebetbuch ließ Anne de Bretagne, zuerst Gemahlin von Karl VIII. und später von Ludwig XII. und somit zweimalige Königin von Frankreich, für sich und ihren Sohn Charles-Orland anfertigen. Dieses für Anne zwischen 1492 und 1495 in Tours geschaffene Gebetbuch wird heute in der Pierpont Morgan Library in New York aufbewahrt. Es bezaubert durch seine reiche Illustrierung mittels 34 luftiger, lichtdurchfluteter Miniaturen, welche zu den zartesten gehören, die man am Ende des 15. Jahrhunderts finden kann.
Sie sind das Werk eines herausragenden Miniaturenmalers jener Zeit, Jean Poyet, der von zeitgenössischen Autoren in einem Atemzug mit Rogier van der Weyden, Hugo van der Goes und Jean Fouquet genannt wird. Seine außergewöhnliche Begabung zeigt sich besonders in den weitläufigen, sich im Dunst verlierenden Landschaften. Die unübertrefflich zarten Inkarnate der Gesichter, die graziösen Figurendarstellungen sowie die hellen und oft ungewöhnlichen Farbkombinationen der Gewänder und die italienisch beeinflusste Architektur in seinen Miniaturen kündigen die Renaissance in Frankreich an.
Zeugnis mütterlicher Liebe
In der Ausstattung entspricht das Gebetbuch ganz Annes persönlichen Wünschen. Gelebter Glaube war ihr ein Anliegen, was in diesem Werk direkten Ausdruck findet. Diese Philosophie wollte sie ihrem Sohn, dem zukünftigen König von Frankreich, offensichtlich weitervermitteln, denn tatsächlich war die in dieser Handschrift erhaltene Gebetfolge als geistiger Begleiter und Erziehungsstütze für einen jungen Knaben in seinem Alter gedacht.
Das reich bebilderte Büchlein war von Anne de Bretagne so entworfen, dass sie sich mit ihrem Sohn hinsetzen und ihn das Beten lehren konnte. Die nicht vollständig wiedergegebenen Gebete sollten nur als Stichwortgeber für den jungen Dauphin dienen. Im Hinblick auf sein späteres Amt als König von Frankreich fügte seine Mutter noch ein ganz spezielles Gebet ein. Es bittet um die für einen König nötige Weisheit. Das Schicksal entschied anders. Charles-Orland starb im Alter von nur drei Jahren. Das kleine Gebetbuch blieb jedoch bis heute als Zeugnis mütterlicher Liebe und Fürsorge erhalten.
Überdies diente es später in Anlage und Ausstattung als Vorbild für ein weiteres Gebetbuch, das die besorgte Mutter für Renée de France, ihre jüngste Tochter aus der Ehe mit Ludwig XII., in Auftrag gab. Auch das sog. Blumengebetbuch der Renée de France wurde vom Faksimile Verlag faksimiliert und ist bereits vergriffen.
Bibliophile Herrscherin – Königliche Mäzenin
Zeitlebens war Anne eine unermüdliche und großzügige Förderin nicht nur der bildenden Künste, sondern auch der Literatur und Musik. Sie kaufte nicht nur zahlreiche Handschriften, sondern finanzierte auch Hofkünstler, Dichter und Musiker. Angesehene Autoren dienten ihr als Sekretäre und Chronisten. Annes persönliche Bibliothek umfasste über 3000 Bände mit religiösen, historischen und literarischen Werken, die zu einem großen Teil italienischer Provenienz waren. Ihre Bibliothek ist ein Zeugnis für ihren Bildungsstand: Anne beherrschte Latein und Griechisch und besaß Kenntnisse im Hebräischen.
Jean Poyet – Herausragender Universalkünstler
Anne de Bretagne beauftragte für ihr Gebetbuch einen Miniaturmaler, der mit den Größten seines Jahrhunderts verglichen wird. Wie Fouquet stammte er aus Tours und hatte nach dessen Tod unangefochten neben Jean Bourdichon dessen künstlerische Nachfolge inne. An drei Königshöfen war der vielseitige Künstler begehrt: Unter Ludwig XI. war er offizieller Hofmaler. Von Anne de Bretagne, Karl VIII. und später Ludwig XII. wurde er als Buchmaler sowie als Organisator und Ausstatter der feierlichen Einzüge des Königspaares hochgeschätzt.
Im 19. Jahrhundert geriet Jean Poyet unverdienterweise in Vergessenheit. Die Faksimilierung eines seiner schönsten Werke trägt dazu bei, ihm wieder den verdienten Rang unter den ersten abendländischen Miniaturenmalern zukommen zu lassen.
Die Faksimile-Edition
Das Faksimile gibt die wunderschöne Handschrift im Originalformat, 12,5 x 8,0 cm, detailgetreu wieder. Der Miniaturenreichtum ist außerordentlich: Auf insgesamt 62 Seiten verteilen sich 34 ganzseitige Miniaturen, alle von der Hand des Meisters. Diese sind wiederum von breiten Schmuckbordüren mit den Buchstaben A, N und E gerahmt. Die Namensbuchstaben werden aus der franziskanischen Kordel gebildet oder sind mit ihr verschlungen – die Verwendung dieses Emblems der Anne de Bretagne ist ein weiteres Indiz für den sehr persönlichen Charakter dieses Werks. Zahlreiche mehrfarbige Initialen mit Blumendekor, teilweise auf Goldgrund oder mit Goldranken auf rotem oder blauem Grund, gliedern die Gebetstexte, die in lateinischer und ein einziges Mal in mittelfranzösischer Sprache gehalten sind. Der Einband ist aus burgunderrotem Samt.
Die Faksimile-Edition erschien als Koedition in einer Weltauflage von 1980 Exemplaren. Die für den deutschen Raum reservierte Auflage der Faksimile-Edition ist auf 980 Exemplare limitiert.
Der Kommentarband
Der wissenschaftliche Kommentarband mit Beiträgen von Roger S. Wieck, Kurator an der Pierpont Morgan Library in New York, und Michelle Hearne beleuchtet die Persönlichkeit der Regentin, Förderin der Künste und fürsorglichen Mutter. Die Arbeit Jean Poyets wird in den Kontext seiner anderen Schöpfungen gestellt. Eine vollständige Transkription und die Übersetzung aller Gebete sind ebenso Bestandteile des Kommentarbandes und erschließen die Handschrift auch für den heutigen Leser.
Die Gesamtausgabe, bestehend aus Faksimileband und Kommentarband, wird in einer mit dunkelrotem Leder bezogenen Kassette ausgeliefert. Auch diese Kassette entspricht in der Aufmachung dem Original aus der Pierpont Morgan Library.