In der ältesten Evangelienübersetzung aus dem Lateinischen ins Altenglische verschmelzen mediterrane und keltische Einflüsse zu einem Formenreichtum, der das Fundament für die weitere abendländische Kunstentwicklung darstellte.
Leuchtende Farben Keltischer Kunst
Skriptorium auf heiligem Boden
»Holy Island« wird die kleine Landzunge vor der Küste Northumbriens genannt, auf der um 635 das Kloster Lindisfarne gegründet wurde. Anfangs noch der berühmten irischen Abtei Iona unterstellt, entwickelte sich das Kloster schnell zu einem monastischen Zentrum in unmittelbarer Nähe des Herrschersitzes der northumbrischen Könige. Hervorragende Künstler und Schreiber fanden auf der wellenumtosten Halbinsel die nötige innere Sammlung und Inspiration, um die heiligen Texte der Evangelien zu wahren Kunstwerken frühmittelalterlicher Buchkunst auszugestalten.
Dem hl. Cuthbert zu Ehren
Cuthbert, ein bereits zu Lebzeiten und heute immer noch hochverehrter Heiliger, lebte lange Zeit als Einsiedler in der Nähe der Abtei, ehe er Bischof von Lindisfarne wurde, sich aber schon bald wieder in die Einöde zurückzog. Von seinen Wundertaten und seinem vorbildlichen Lebenswandel berichtet uns der berühmte Gelehrte Beda Venerabilis in zwei von ihm verfassten Viten. Nur wenige Jahre nach seinem Tod am 20. März 687 wurde Cuthbert bereits heiliggesprochen, und in seinen Mitbrüdern reifte der Wunsch, ein besonders prächtiges Evangeliar zum Gedächtnis des heiligen Mannes zu schaffen: das Buch von Lindisfarne.
Aus diesem frommen Wunsch ist ein einzigartiges Meisterwerk der Buchkunst entstanden. Die Mönche verehrten das Evangeliar wie eine Reliquie, dem Kunsthistoriker und Paläographen ist es in seinem unermesslichen Reichtum ein Fundament für die weitere abendländische Kunstentwicklung überhaupt, der Sprachwissenschaftler findet in ihm die älteste Übersetzung der Evangelien aus dem Lateinischen ins Altenglische und die Kuratoren der British Library hüten das Buch von Lindisfarne heute wie einen Staatsschatz.
Besterhaltenes Evangeliar seiner Zeit
Trotz seines hohen Alters von beinahe 1300 Jahren befindet sich das Buch von Lindisfarne in einem außerordentlich guten Zustand, es ist sogar weltweit das einzige komplett erhaltene Evangeliar aus dem insularen Raum.
Auf 259 Folios im Format 34,0 x 24,5 cm aus sorgfältig verarbeitetem Kalbspergament enthält es den lateinischen Text der vier Evangelien in der Vulgata des heiligen Hieronymus. Jedes der Evangelien wird durch eine einleitende Erklärung, ein Kapitelverzeichnis und einen liturgischen Festtagskalender eröffnet. Zusätzlich gehen drei Vorreden, angeführt vom Brief des Hieronymus an Papst Damasus, dem eigentlichen Text voraus. Eine Folge prachtvoll gestalteter Kanontafeln, die sich zum ersten Mal über 16 Seiten ausdehnt, eröffnet das Buch.
Die Handschrift und ihre Meister
Dem Mönch Eadfrith, der kurz nach der Heiligsprechung Cuthberts Bischof von Lindisfarne wurde, ist nicht nur die vollständige Abschrift des Evangelientextes in einer besonders schönen insularen Majuskel zu verdanken, sondern zugleich die gesamte künstlerische Ausgestaltung des Evangeliars. Eine Inschrift imBuch von Lindisfarne aus dem 10. Jahrhundert nennt neben Eadfrith noch seinen späteren Nachfolger im Amt Æthelwald als Buchbinder und den Einsiedler Billfrith als Goldschmied für den Einbandschmuck. Damit wissen wir über die Herstellung dieser Handschrift mehr als über die meisten Handschriften des Mittelalters.
Einzigartiger Schmuck: Die Teppichseiten
Fünf außergewöhnliche Teppichseiten präsentieren die ganze Palette insularer Ornamentik in all ihrem atemberaubenden Farben- und Formenreichtum. Kunstvoll in die Gesamtkomposition eingearbeitete Kreuzformen heben sich dank leuchtender Konturen plastisch aus dem dicht gewirkten Flechtwerk ab.
Mit den Kreuzteppichseiten zu Beginn jedes Evangeliums und einer weiteren am Anfang des Buches ist eine ebenso reich gestaltete Incipitseite kombiniert. Die großen Initialen erstrecken sich über die ganze Seite. Dabei verschmelzen die bis ins kleinste Detail von fließenden Ornamenten und Mustern ausgefüllten Zierinitialen mit den unmittelbar folgenden Buchstaben zu kunstvollen Monogrammen. Über 200 weitere, farbig ausgefüllte und zum Teil rot umpunktete Anfangsbuchstaben gliedern darüber hinaus den gesamten Text.
Insulare und mediterrane Kunst verschmelzen
In den Kanontafeln und Evangelistenporträts des Buches von Lindisfarne verschmelzen die Einflüsse des mediterranen und keltischen Kulturkreises zu einem einmaligen Meisterwerk insularer Buchkunst. So wird der auf ein Vorbild aus dem Raum um Neapel zurückzuführende Text des Evangeliars in einer dem insularen Kulturbereich eigenen Majuskelschrift wiedergegeben und im hiberno-sächsischen Stil ausgestaltet. Die an süditalienischen Vorlagen orientierten Evangelistenporträts weisen neben mediterranen Einflüssen ebenfalls typisch insulare Züge auf. Am eindrucksvollsten wird die Verquickung dieser zwei Kunstrichtungen jedoch in den mit insularen Ornamenten und Flechtmustern verzierten klassischen Säulenarkaden der Kanontafeln.
Viktorianische Buch- und Goldschmiedekunst
Während der Regierungszeit Heinrichs VIII. wurde die Handschrift ihres Einbandes beraubt, der in seiner glänzenden Pracht an einen Reliquienschrein erinnert haben mag. Um die Handschrift wieder mit einem ihrer würdigen Einband zu schmücken, stiftete Bischof Maltby von Durham 1852 einen kostbaren Prachteinband, dessen Schmuckelemente direkt vom insularen Formenschatz aus der Handschrift inspiriert sind.
Die Faksimile-Edition
Die Faksimile-Edition besteht aus dem Faksimileband und dem wissenschaftlichen Kommentar. Die Auflage ist weltweit auf 980 Exemplare limitiert. Die 518 Seiten umfassende Handschrift wird bis ins kleinste Detail und vollkommen originalgetreu wiedergegeben. Für maximal 290 Exemplare der Faksimile-Edition wird eine originalgetreue Replik des viktorianischen Einbandes mit allen Schmucksteinen angefertigt. Die restlichen Exemplare sind wie die Faksimile-Edition des Book of Kells in einen neutralen, hellen Ledereinband gebunden.
Der Kommentarband
Der wissenschaftliche Kommentar besteht aus zwei Bänden, in denen Dr. Michelle P. Brown, Handschriftenkuratorin der British Library, ihre neuesten Erkenntnisse über den Codex, auch zur neuen Datierung, ausführlich darlegt. Zahlreiche Detailstudien garantieren die vollständige Erschließung der Handschrift.