Das Croy-Gebetbuch entstand im 16. Jahrhundert. Es ist berühmt für seine Drôlerien, jene Randmotive einer Handschrift, die Mischwesen aus Tier, Mensch und Pflanze darstellen. Die 58 Miniaturen in höchster Qualität stammen von den Brügger Meistern Simon Bening und Gerard Horenbout.
Fabelhafte Welt In Miniaturen
Die phantastischen Drôlerien
»Drôlerien« nennt man jene Motive im Randdekor einer Handschrift, die Mischwesen verschiedener Tiere, von Menschen und Tieren oder Tieren und Pflanzen oder auch anorganischen Dingen bilden. Sie bevölkern in unzähligen Abwandlungen und immer neuen Kombinationen unsere Handschrift.
Ein Teil dieser Drôlerien reicht in ihrer Phantastik durchaus an Hieronymus Bosch heran. So begegnet man Hähnen mit Menschenköpfen, Hunden mit Menschenmasken, Bogenschützen, die sich aus einem Fischmaul winden, einem Vogeldrachen, dessen Hinterteil als Elefantenkopf ausgebildet ist, und vielem anderen mehr.
Dazu kommen noch die zahlreichen von Tieren gespielten Szenen; zu nennen wären etwa Affen als Turnierreiter oder musizierende Äffchen.
Meisterhafte Ausführung der Drôlerien
Spezielle Beachtung wurde der ästhetischen Ausmalung der Drôlerien geschenkt. Besonders bei solch freistehenden Einzelmotiven wirkten einander nicht deckende Konturen störend, irritierten auf der Gegenseite, indem man Flecken und Schatten der auf der Rückseite aufgemalten Figuren jeweils durchscheinen sah. Daher gingen manche Buchmaler dazu über, unter Berücksichtigung der Konturen der Gegenseite völlig andere Motive zur Darstellung zu bringen.
So wird im Gebetbuch eine Phantasieblüte einer Figur gegenüber, die eine Knicklaute spielt, gesetzt. Das bedeutet, dass sich die Miniatoren mit den Randausschmückungen ausgiebig beschäftigt haben.
Eine einzigartige Besonderheit dieser Drôlerien ist zudem das illusionistische Spiel mit der Dreidimensionalität. Wenn man das Gebetbuch aufmerksam durchblättert, wird man bei einigen Motiven stutzig: Sie zeigen nämlich ihre Rückseite. Im Vor- und Rückblättern hat man Vorder- und Rückansicht des Motivs vor sich.
Daraus ersieht man die ausgeklügelte Raffinesse, mit der die Künstler an das Problem der Aussöhnung des zweidimensionalen Mediums Buch und der Dreidimensionalität der abgebildeten Dinge herangingen.
Die prachtvollen Miniaturen
Das Croy-Gebetbuch wird von einem Kalender eingeleitet, der auf herrlich ausgestalteten Doppelseiten den Lauf des Jahres anzeigt. Aber auch die anderen Miniaturen sind von ausgezeichneter Qualität.
Sämtliche Seiten mit großformatigen Bildern sind von bronzegoldenen Schnitzwerkrahmungen eingefasst, die in gotischen Formen gehalten sind. Dasselbe Rahmensystem findet sich auch auf den gegenüberliegenden Textseiten, so dass beim Aufschlagen der wichtigsten Textabschnitte jeweils derselbe optische Eindruck entsteht.
Die insgesamt 58 Miniaturen sind von höchster Qualität und entsprechen dem üblichen Programm eines Stundenbuchs: Auf die zwölf Kalenderminiaturen folgen die verschiedenen kunstvoll ausgeführten Bilder zu den Andachten zum Antlitz Christi, zum Heiligen Kreuz und zum Heiligen Geist, Bilder zu einer Marienmesse und zu Perikopen aus den vier Evangelien.
Der Kern des Buches wird von einem Marienoffizium gebildet. Dazu kommen noch Bußpsalmen, ein Totenoffizium sowie Gebete zu verschiedenen Heiligen.
Faszinierende Geschichte
Auftraggeber für dieses herrliche Werk war vermutlich eine Dame des burgundisch-habsburgischen Hofes. Aufgrund der Namenseintragung von Guillaume de Croy auf einer Seite nennt man es das Croy-Gebetbuch.
Croy und seine Familie erlangten unter dem Herzog Johann Ohnefurcht und dessen Sohn Phillip dem Guten von Burgund führende Stellungen. Sie gehörten somit zu den mächtigsten und reichsten Familien Burgunds. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erwarb Prinz Eugen von Savoyen die wertvolle Bilderhandschrift für seine Bibliothek, die damals eine der größten der Welt war. 1738 schließlich konnte Kaiser Karl VI. diese Bibliothek von der Nichte Prinz Eugens erwerben.
Geheimnisvolle Entstehung
Die Miniaturen des Croy-Gebetbuches sind Werke der beiden großen Meister der Gent-Brügger Schule, Gerard Horenbout er zeichnet für die Abschnitte Kreuzigung und Pfingsten verantwortlich und Simon Bening für alle übrigen ganzseitigen Bilder. Auch der berühmte Tafelmaler Gerard David war zumindest als Ratgeber am Werk beteiligt.
Die Handschrift ist aber noch von einigen Geheimnissen umwölkt. So konnte die Forschung bis heute keine genaue Zuordnung der Miniaturen zum Kalender vornehmen, denn vor allem die expressiven Gesichter stehen isoliert in der Gent-Brügger Schule. Das Werk ist nicht in einer Werkstatt entstanden; die beiden Meister haben die Miniaturseiten gemalt, das eigentliche Buch wurde in einem eigenen Arbeitsgang gefertigt. Trotz oder wegen dieses vielfältigen und komplizierten Arbeitsprozesses stellt das prächtig ausgearbeitete Stundenbuch ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk dar.
Die Faksimile-Edition
Der Faksimileband im Format von 19,5 x 13,7 cm erscheint in einer einmaligen Auflage von nur 980 numerierten Exemplaren, von denen 290 Exemplare mit wertvollen vergoldeten Zierschließen, Beschlägen und Rosetten geschmückt sind. Auf den 366 Seiten finden Sie 58 farbenprächtige Miniaturen, über 200 phantastische Drôlerien sowie eine große Anzahl von Ziermotiven. Diese Vorzugsausgabe ist vergriffen.
Die Normalausgabe wurde in einen Kalbsledereinband eingebunden, der eine genaue Replik des noch sehr gut erhaltenen Originaleinbandes ist. Dieser wurde Anfang des 16. Jahrhunderts vom berühmten Buchbinder Ludovicus Bloc aus Brügge geschaffen. Die Blindprägung zeigt Medaillons mit Affen, Wildschweinen, Hirschen, Rindern, Hunden, Hasen oder Eichhörnchen sowie tanzende Bauern und Musikanten.
Der Kommentarband
Im wissenschaftlichen Kommentarband erleichtern Ihnen namhafte Wissenschaftler den Zugang zumCroy-Gebetbuch: Prof. Dr. Otto Mazal, Wien, und Doz. Dr. Dagmar Thoss, Wien.