Um 1300 in der ostenglischen Abtei Peterborough entstanden, ist dieses Bestiarium eine der am kostbarsten ausgestatteten Handschriften dieser Gattung. Über 100 Miniaturen auf Goldgrund oder im Goldrahmen zeigen die damalige Tierwelt und auch Fabeltiere wie Einhorn oder Phönix.
Wunder Der Tierwelt In Bildern Der Gotik
Die Tierwelt beschrieben und gedeutet in einem prächtigen Bilderbuch
Tierbücher gab es schon im Altertum, und es ist nicht verwunderlich, dass sie im Mittelalter zu den beliebtesten illustrierten Handschriften zählten. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist dasBestiarium aus Peterborough, das mit viel Kunst- und Naturverstand um 1300 in dieser ostenglischen Abtei ausgeführt wurde.
Hunde, Pferde, Affen und Löwen, Hirsche, Sirenen und der Phönix gehören zu den über 100 darin gemalten, beschriebenen und in ihrem Verhalten der Zeit entsprechend, christologisch gedeuteten Tieren. Dabei glaubte man an Tiere, die es nicht gab und schrieb vielen realen Tieren auch fabelhafte Eigenschaften zu.
Verschwenderische Ausstattung mit Miniaturen, Zierinitialen, Drôlerien und Ranken
Das Bestiarium aus Peterborough ist eines der am kostbarsten ausgestatteten Bestiarien. Insgesamt 104 Miniaturen illustrieren alle Seiten der Handschrift: Sie stehen auf leuchtendem Goldgrund mit farbigen gotischen Zierrahmen oder auf farbig gemustertem Grund und sind dann in Gold eingefasst.
108 mehrzeilige und farbige Zierinitialen leiten die Kapitel zu jeder einzelnen Tierbeschreibung ein. Abwechselnd sind sie mit verschlungenen Pflanzenelementen geschmückt oder mit kleinen männlichen oder weiblichen Porträts. Letztere sind ein typisches Merkmal der englischen Buchkunst. Farbiges Rankenwerk läuft zwischen den Textspalten und beherbergt kleine Vögel und Drôlerien. Mit einem Seitenformat von 34,8 x 23,6 cm gehört das Bestiarium aus Peterborough zu den größten Handschriften dieser Art.
Peterborough – geistiges und wissenschaftliches Zentrum
Nur ein gut ausgestattetes Skriptorium konnte eine so aufwendige Handschrift herstellen. Die Abtei und spätere Kathedrale von Peterborough nahm während der 900 Jahre ihres Bestehens immer einen wichtigen Platz in der englischen Kirchenlandschaft ein. Hier entstanden nicht nur liturgische Prachtcodices sondern auch kostbar ausgestattete Handschriften für das wissenschaftliche Studium. Seit 1575 wird das Bestiarium aus Peterborough als Teil der Sammelhandschrift MS 53 in der Parker Library des berühmten Corpus Christi College in Cambridge aufbewahrt.
Ein originelles Buch für Kleriker und Laien
In geistlichen und weltlichen Kreisen gleichermaßen beliebt, gehören Bestiarien ab dem 12. Jahrhundert neben Psalterien und Apokalypsen zu den am meisten verbreiteten illuminierten Handschriften in England und Nordfrankreich. Dem nach Anschauungsmaterial für seine Predigt suchenden Geistlichen boten sie einen reichen Schatz von Exempeln aus dem Tierreich; private Auftraggeber ergötzten sich dagegen an der Originalität der Illustrationen und an der Kuriosität so mancher Tierbeschreibung.
Die Rezeption der Antike
War die Tiersymbolik im Mittelalter noch allgemein verständlich, bietet das Bestiarium aus Peterboroughdem heutigen Leser eine Fundgrube spätantiken naturkundlichen, mythologischen und philosophischen Wissens.
Im Wesentlichen geht der Text auf eine Physiologus genannte Schrift zurück, die vermutlich in Alexandria um 200 n. Chr. entstanden ist. »Physiologus« meint übersetzt einen Naturkundigen. Tatsächlich stellt der anonym gebliebene Verfasser unter diesem Namen die Verhaltensweisen wirklicher und fabelhafter Tiere vor und setzt sie, ausgehend von der christlichen Religion, in allegorischen Bezug zu Gott, dem Menschen und dem Teufel. Die Schrift erfreute sich sofort großer Beliebtheit. Sie wurde im Laufe der Jahrhunderte in viele Sprachen übersetzt und so lange mit Zusätzen aus naturkundlichen Werken anderer Gelehrter ergänzt, bis im 12. Jahrhundert daraus das Bestiarium entstanden war, der »Grzimek« des Mittelalters.
Die umfassendste Ergänzung zum Urtext stammt aus der berühmtesten, 20-bändigen Enzyklopädie des Frühmittelalters: die Etymologiae des Isidor von Sevilla aus dem 7. Jahrhundert. Das ganze Mittelalter hindurch genossen die Schriften Isidors unangefochtene Autorität, die auch auf das Bestiarium übertragen wurde.
Fabelhafte, heimische und exotische Tierwelt in Bildern der Gotik
Die Beschreibung von mehr als 100 Landtieren, Vögeln, Reptilien und Wassertieren macht aus demBestiarium aus Peterborough eines der vollständigsten Tierkompendien dieser Art. Es beginnt mit dem Löwen als dem König der Tiere, aber auch Fabelwesen wie Phönix, Einhorn und Greif werden abgehandelt. Eine besondere Herausforderung lag für den englischen Buchmaler in den vielen exotischen Tieren wie Antilope, Elefant und Krokodil, die er meist nur aus Musterbüchern oder Reisebeschreibungen kennen konnte.
Die Ablösung der romanischen Kunst durch die Gotik, ausgehend von Frankreich, bedeutet auch in England die Herausbildung eines neuen Malstils. Der Wunsch, den Figuren mehr Plastizität zu verleihen, führt generell zu einer grazileren und schwungvolleren Linienführung. Natürlich beeinflusst die neue Ästhetik auch die Tierdarstellung. Die Tierkörper beginnen sich vom Hintergrund abzulösen, der Schwung der Bewegung lässt sie natürlicher erscheinen. So entfaltet sich in den Miniaturen des Bestiariums aus Peterborough ein sehr lebendiges Panorama der bekannten und der exotischen Tierwelt, das wesentlich näher an der Natur ist als das der früheren romanischen Bestiarien.
Die Faksimile-Edition
Die Faksimilierung der 44 Seiten des Bestiariums aus Peterborough im Originalformat von 34,8 x 23,6 cm erfolgt in einer weltweit auf 1480 Exemplare limitierten Auflage. Ein in sorgfältiger Handarbeit blindgeprägter brauner Ledereinband, eine getreue Nachbildung eines typischen Einbands aus Cambridge, umschließt den Faksimileband. Alle Blätter wurden zuvor originalgetreu randbeschnitten und von Hand zum Buchblock geheftet. Die Rollenstempel auf der Einbanddecke zeigen, passend zum Inhalt des Buches, als Motive Greif, Löwe und Drache.
Ein wissenschaftlicher Begleitband einschließlich einer vollständigen Transkription und Übersetzung aller Texte, verfasst von Christopher de Hamel, Bibliotheksdirektor am Corpus Christi College in Cambridge, und Lucy Freeman Sandler, der großen Spezialistin für englische Buchmalerei von der New York University, trägt zum Verständnis der Handschrift bei.